Eine wahre Geschichte: Einem verhaltensauffälligen Kita-Kind werden einfache Bilder gezeigt. Es soll in Worte fassen, was darauf zu sehen ist. Der Test verläuft zäh – langes Überlegen, meist Schweigen. Eine Entwicklungsverzögerung, eine Lernbehinderung? Nein, der junge Mann ist hochbegabt. Zum Bild mit einem Baum hat er nichts gesagt, weil er in der symbolischen Darstellung nicht erkennen konnte, ob es sich um Eiche, Buche oder einen Obstbaum handelt. Dass es ein Baum ist, sieht doch jeder, das kann also unmöglich die verlangte Antwort sein, so seine Gedanken. Der Junge hatte Glück. Seine Hochbegabung wurde erkannt, er wurde gefördert, übersprang eine Grundschulklasse und machte nach elf Schuljahren Abitur.
Was bedeutet Hochbegabung?
Die üblichen psychologischen Modelle nutzen Intelligenztests, um Hochbegabung zu erkennen. Ab einem Intelligenzquotienten (IQ) von 130 wird von einer Hochbegabung gesprochen. Das trifft auf etwa 2 % der Bevölkerung zu. Allerdings ist die Messmethode per IQ-Test nicht unumstritten. Erstens ist Intelligenz nicht direkt messbar, ein Test muss sich deshalb auf verschiedene Facetten beziehen. Die Tests müssen altersgerecht sein und auch das kulturelle Umfeld berücksichtigen. Dennoch können auch solche Tests Minderheiten benachteiligen. Zweitens verändert sich die durchschnittliche Intelligenz. Bis zum Beginn der 1990er Jahre nahm sie zu, stagnierte für einige Zeit und ist nun rückläufig. Die Tests müssen entsprechend schwerer bzw. leichter gemacht werden, um eine korrekte Differenzierung am oberen Ende der Skala zu zeigen. Drittens können Testergebnisse derselben Person nach einiger Zeit völlig anders ausfallen. Dafür kann es kurzfristige Gründe wie Stress geben, es kann aber auch sein, dass sich der IQ im Lauf der Zeit dem altersgemäßen Normalwert angleicht. Die allgemeine Sicht, einmal hochbegabt, immer hochbegabt, gilt bereits nach sechs Jahren bei etwa 15 % der getesteten Kinder nicht mehr.
Welche Anzeichen sprechen für eine Hochbegabung?
Kindern zeigen bei einer Hochbegabung Merkmale, die einzeln zwar häufig vorkommen, in Summe aber die Aufmerksamkeit der Eltern wecken sollten. Vielleicht denken Sie jetzt zuerst an schnelle Entwicklungsschritte wie Sprechen lernen, Interesse am Lesen und an Neugier für Sachverhalte, für die sich sonst ältere Kinder interessieren. Alles richtig – aber es gibt auch eine Kehrseite. Hochbegabung geht nicht zwingend mit guten schulischen (oder später beruflichen) Leistungen einher. Bei Unterforderung sind Hochbegabte schnell gelangweilt, werden als Streber oder Klassenclown abgestempelt, bleiben Außenseiter. Die Diskrepanz zwischen herausragender intellektueller und normaler (oder gar geringerer) emotionaler Entwicklung wird zum Problem.
Wie fördert oder nutzt man Hochbegabung?
Viele Eltern zögern mit Konsequenzen, wenn sie bei ihrem Kind eine Hochbegabung erkennen oder vermuten. Sie haben Sorge, das Kind zu überfordern, sozialem Druck auszusetzen oder Schwierigkeiten in der Schule zu bekommen. Sind Sie in dieser Situation, lassen Sie sich nicht abhalten, Ihr Kind zu fordern und zu fördern. Gestalten Sie die Freizeit aktiv zum Beispiel mit Lesen und Museumsbesuchen, lassen Sie Kontakte zu älteren Freunden zu. Mögliche Defizite im Lern- und Sozialverhalten können zum Beispiel durch Ergotherapie ausgeglichen werden. Hilfe erhalten Sie bei Hochbegabten-Vereinen. Auch unter Erwachsenen gibt es Hochbegabte, die um ihre Ausnahmesituation nicht wissen. Fühlen Sie sich anders, unsicher und missverstanden? Vielleicht ist Hochbegabung die richtige Diagnose.
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